Studienabruch muss nicht sein

vdi nachrichten 2010. Fast jeder zweite Ingenieurstudent wechselt das Fach oder bricht das Studium ab. Mit neuen Auswahlverfahren, einer intensiveren Betreuung und Praxisprojekten steuern die Hochschulen dagegen.

Es ist kaum zu glauben. An den Universitäten brechen 25% aller Ingenieurstudenten ihr Studium ab und 17% wechseln das Fach. Das ist, bezogen auf die ursprünglichen Studienanfänger eine Schwundquote von 42%. Im Maschinenbau und in der Elektrotechnik beträgt die Schwundquote sogar 53%. Das sind die vom dem renommierten Forschungsinstitut HIS Hochschul-Informations-System GmbH ermittelten, aktuellen Fakten. Da Problem trifft vor allem die Universitäten. An den Fachhochschulen ist die Schwundquote etwas geringer.

Knackpunkt Mathematik
Was läuft vor allem an den Universitäten schief? Heublein: „Die meisten scheitern am Leistungsniveau.“ Der größte Stolperstein sind die Anforderungen in der Mathematik. Wolfgang Gollub, der beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall für die Nachwuchssicherung zuständig ist, klagt: „An den Hochschulen wird die Mathematik oft bewusst als Selektionsinstrument benutzt und an den Schulen wird zu viel auswendig gelernt.“

Mit Praxis gegen Mathefrust
Den Vorwurf hinaus zu prüfen wollen die Hochschulen nicht auf sich sitzen lassen. Zudem beginnen sie, den hohen Studentenschwund ernst zu nehmen und gegenzusteuern. Die TU München, die RWTH Aachen oder die TU Darmstadt zum Beispiel haben die Betreuung der Studierenden intensiviert: Sie bieten verstärkt Tutorien und die Arbeit in kleinen Gruppen an. Professoren übernehmen Patenschaften. An der TU Darmstadt sind Seminare zu Arbeitstechniken Pflicht. „Aber das reicht nicht aus, um die Studenten bei der Stange zu halten“, sagt Prof. Dr. Ing. Peter Stephan, Dekan der Fakultät Maschinenbau. „Sie müssen von Anfang an begreifen, wofür ein Ingenieur Grundlagenfächer wie Mathematik und Physik benötigt. Wir haben dafür eine erfolgreiche Lösung gefunden: Projektkurse.“ Bereits im ersten Semester werden die Studierenden in kleinen Gruppen aufgeteilt und bekommen alle die gleiche Ingenieuraufgabe, zum Beispiel ein Fahrzeug zu bauen, das sowohl eine Skipiste als auch eine Schotterpiste herunterfahren kann. Die besten Ergebnisse werden prämiert. Während des Projekts werden die Studierenden von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter und einem Psychologen betreut. Diese helfen, sich im Team zu koordinieren, Probleme zu definieren und daraus Arbeitsaufträge zu formulieren. Professor Stephan: „Die Projekte sind ein Riesenerfolg. Die  Studierenden sind viel motivierter. Sie lernen zudem, wie ein Ingenieur zu arbeiten.“

Im MATHCamp das richtige Lernen üben
Dass Mathe Spaß macht, erfahren Jugendliche auch in sogenannten Mathecamps wie zum Beispiel im MATHCamp, das der Arbeitgeberverband Gesamtmetall im Rahmen der Initiative THINK ING, dem Verein mathematisch-naturwissenschaftlicher Excellence-Center (MINT-EC) sowie der Universität Bayreuth seit einem Jahr durchführt. „Zielgruppe sind Abiturienten, die nicht sicher sind, ob ihre Mathematikkenntnisse für ein technisches Studium ausreichen“, sagt Prof. Dr. Peter Baptist, Leiter des Zentrums zur Förderung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts an der Universität Bayreuth. „Wir vermitteln  bis auf die Thematik „Komplexe Zahlen“ keinen neuen Stoff, die Vorgehensweise unterscheidet sich aber vom Schulunterricht. Insbesondere werden Anregungen zum eigenständigen Lernen gegeben. Eine wichtige Arbeitsmethode im Studium, die in der Schule manchmal zu kurz kommt.“
Mathe ist jedoch nicht allein schuld an der Misere. „Viele Studienabbrecher oder Fachwechsler  haben völlig falsche Vorstellungen vom Studium und der Arbeit eines Ingenieurs“, so Dr. Ulrich Heublein vom HIS. Dagegen helfen nur differenziertere Auswahl- und Beratungsverfahren.  Die  TU München und die TU Darmstadt laden Bewerber zu Auswahlgesprächen ein. „In diesem Gespräch geht es vor allem darum, abzuklären, ob die Erwartungen stimmen“, sagt Dr. Thomas Wagner, Referent des Studiendekans der Fakultät Maschinenbau an der TU München. Seit zwei Jahren können sich an der RWTH Aachen Bewerber nur für das Fach Maschinenbau einschreiben, wenn sie einen zweistündigen Online Test zum Self Assessment absolviert haben. Sie sollen so zu einer intensiven Studienberatung angeregt werden. In dem Test müssen die Teilnehmer Aufgaben lösen, in denen sie ihre Fähigkeiten in Mathematik, Technischem Verständnis und Logik unter Beweis stellen. Sie können zudem überprüfen, ob ihre Interessen und Motive zum Studium passen.

Gebündelte Maßnahmen greifen
Differenzierte Auswahlverfahren, intensivere Betreuung und Beratung, Projektkurse: Helfen diese Rezepte gegen den Studentenschwund? Darmstadt hat die Trendwende geschafft: Gerade mal 6 Prozent haben nach dem dritten Semester dem Fach den Rücken gekehrt. 2003 waren es noch 21 Prozent, was auch schon gut war. In der RWTH Aachen und an der TU München liegen die Schwundquoten im Maschinenbau nach wie vor deutlich höher. Woran liegt es?  Prof. Dr. Stephan: „Die Maßnahmen brauchen Zeit. Wir haben früher als andere Hochschulen begonnen, gegenzusteuern und ein Bündel von Maßnahmen realisiert, die ineinandergreifen.“

Kopf nicht in den Sand stecken
Die Studierenden sollten sich jedoch auch selbst an die Nase fassen. Viele nehmen unsere Informations- und Beratungsmöglichkeiten viel zu wenig wahr“, sagt Dr. Thomas Wagner. „ Nur ein Viertel aller Studienabbrecher sucht bei uns Hilfe, und dann oft viel zu spät.“ Er rät allen Studenten bereits nach der ersten versiebten Klausur in die Studienberatung zu kommen. „Dann können wir klären, wo das Problem liegt. Viele lernen zum Beispiel nicht kontinuierlich. Wer die Vorlesungen ordentlich vor- und nachbearbeitet und aktiv auf das Lehrpersonal zugeht, wenn er etwas nicht versteht, hat gute Chancen auf eine erfolgreiches Studium.“ /Text: Rita Spatscheck