Stuttgarter Nachrichten 2012

Hauptsache nicht zu Hause

Die Venezianer taten es in Gondeln, die Engländer auf Friedhöfen und die Franzosen im Thermalbad. Picknick ist eine Freizeitbeschäftigung mit langer Tradition.

Was könnte schöner sein als an einem trägheißen Sonntagnachmittag in Gesellschaft von Familie und Freunden faul unter einem Baum zu liegen, neben sich Wein, knuspriges Brot, Käse und andere Leckereien. Die Sonne scheint auf den Bauch, der Wind raschelt in den Blättern  und man muss nichts tun, außer Schäfchenwolken zu zählen. Was macht es da schon, wenn Ameisen die Waden hinaufkrabbeln oder Wespen den Pfirsich attackieren, in den man gerade beißen möchte. Picknick! Das ist für viele von uns Inbegriff für eine paradiesische Auszeit, in der wir wie Adam und Eva fernab von den Zwängen des Alltags tun und lassen können, wonach uns der Sinn steht.

Ohne Heerscharen von Dienern kein Picknick

Der Begriff Picknick tauchte zum ersten Mal 1692 in Frankreich als Pique-Nique auf. Damit bezeichnete man vergnügliche „zwanglose“ Gesellschaftsessen. Diese sollten vor allem den Adeligen und ihren Gästen die Langeweile vertreiben, wenn diese im Sommer auf ihren Landschlössern weilten und so gar nichts mit sich anzufangen wussten. Also brach man mit der gesamten Dienerschaft und vielen Gästen zu sogenannten Landpartien in den Wald oder an die Ufer eines Sees auf. Aufgetafelt wurde dann das Feinste vom Feinen: Fasanen, Tauben, Hummer, Kalbsköpfe, Torten, Obst. Der Champagner floss in Strömen. Selbstverständlich schmausten die Herrschaften nicht auf dünnen Decken im Gras, sondern an festlichen Tischen, gedeckt mit Damast, feinem Porzellan, Silberbesteck und edlen Kristallgläsern.

Mit Dampflock und Dosenöffner wird das Picknick zum Volksport

Wirklich zwanglos wurden Picknicks erst, als die Freude an den Gaumenfreuden im Grünen alle Bevölkerungsschichten erreichte, und das war seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall. Dann kamen die ersten Eisenbahnen angedampft und transportierten die Städter zu erschwinglichen Preisen aus ihren stickigen, dunklen Wohnungen in die sonnige Natur. Eine Reihe nützlicher Errungenschaften sorgte jetzt dafür, dass die Dienerschaft zu Hause bleiben konnte. 1858 meldete der Amerikaner Ezra J. Warner den ersten Büchsenöffner zum Patent an. 1892 erfand der britische Chemiker und Physiker James Dewar die Thermoskanne und 1895 wurden bei Harrods in London die ersten Picknickkörbe angeboten. In diesen praktischen Körben konnte man Geschirr und Essen so sicher verpacken, dass Picknickfans auch abgelegene Plätze in der Natur ohne Scherben erreichen konnten.

Getafelt wird im Wasser und in den Wolken

Für wahre Picknickliebhaber gibt es keinen Ort, der sich nicht zum Dinieren im Freien eignet. 1939 ließen sich amerikanische Bauarbeiter, die dem Walldorf-Astoria eine neue Fassade verpassten, von den Kellnern des berühmten Restaurants mehrere Gänge auf den Stahlträgern der Baustelle servieren, 40 Stockwerke über der Park Avenue. Die Pariser gaben sich im 17. Jahrhundert gerne in Thermalbädern ihren Gaumenfreuden hin,  so die Autorinnen des Buchs Picknick, Vergnügen, Lust & Genuss, Jeanne-Marie Darblay und Caroline Mame de Beaurepaire.  Bedienstete ließen Fässer ins Wasser gleiten, auf denen kleine Mahlzeiten wie Pastetchen, Kuchen und Likör aufgetischt wurden. Die Badegäste schwammen um die Fässer herum und versuchten, so viel wie möglich von den Köstlichkeiten zu erhaschen.

Zwischen Grabsteinen

Im viktorianischen England fand man es todschick, auf dem Friedhof zu tafeln, so Darblay und de Beaurepaire.  Wenn Regenwolken einen Strich durch die Picknickpläne machten, holte man sich den Friedhof in den Salon, malte auf Leintücher Bäume und Grabsteine und setzte sich dazwischen auf den Boden.
Venezianer picknicken noch heute am liebsten in ihren Gondeln. Am dritten Sonntag im Juli sind die canales für die lärmenden Vaporettas und Motorboote gesperrt. Gegen Mitternacht rudern Scharen von Familien in mit Blumen und Girlanden geschmückten Gondeln auf die Kanäle hinaus – und dann wird getafelt. Freunde tauschen von Boot zu Boot Polenta, Pasta, Kalbsraten und natürlich Wein aus.

und parkenden Autos

Zu den leidenschaftlichsten Essern im Freien zählen sicherlich die Engländer. Sie nutzen jede Gelegenheit wie die Halbzeit von Rugby-oder Kricketspielen. Reiche und weniger Reiche suchen sich dann vor dem Stadion und dazwischen den parkenden Autos ein Plätzchen, um die Picknickkörbe auszupacken. Gern erfreut man sich auf der Insel auch an Picknickopern. Musikliebhaber ziehen in Cut und Abendkleid zum Beispiel nach Glyndebourne, um zwischen Kühen und Schafen Opernklänge zu hören und dabei zu picknicken.

Und zum Dessert Maiglöckchen-Sex

Nur mit Hör- und Gaumenfreuden hätten sich die Damen der Pariser Gesellschaft im 17. Jahrhundert nur ungern zufrieden gegeben. Wenn im Frühjahr die Kunde ging, dass die Maiglöckchen sprießen, hielt die Medames und Mademoiselles nichts mehr. Sie begaben sich in die Tuillerien zu einem Picknick. Dort begegneten sie, so Darblay und de Beaurepaire, dann „zufällig“ jungen Galanen, Maiglöckchen genannt, die den Damen Speis, Trank und Liebesdienste anboten. Diese Mode hat die Zeiten nicht überdauert. Aber ein Picknick ist dennoch nach wie vor eine paradiesische Auszeit voller verheißungsvoller Versprechungen.

© Rita Spatscheck